"Volkskultur hat mich schon immer fasziniert“
Das Valle Onsernone ist ein enges Tal, welches in Cavigliano rechts abzweigt und sich 20 Sackgassenkilometer hoch bis zu den Bagni di Craveggia schlängelt. Die Strasse führt durch acht Dörfer und ein paar Weiler. Tief unten rauscht der Isorno. In Auressio, dem ersten Dorf, machen wir Halt. Wie alle anderen Orte im Tal ist es von Abwanderung bedroht und zählt nur noch etwa 80 Einwohnerinnen und Einwohner.
Hier ist Mauro Garbani als Sohn von Bergbauern aufgewachsen. Von Musik fasziniert, erlernte er autodidaktisch das Spiel mit der Gitarre und mit dem Organetto. Diese fast vergessene kleine Handharmonika erweckte er zu neuem Leben und trug wesentlich dazu bei, dass sie im Tessin wieder gespielt wird. «Eigentlich wollte ich ans Konservatorium» erzählt er, «aber mein Vater war dagegen, obwohl mein Lehrer bei meinen Eltern ein gutes Wort für mein Vorhaben einlegte.»
Es nützte nichts, Mauro Garbani musste Schreiner werden und arbeitete nach der Lehre zehn Jahre in diesem Beruf. Daneben begann er bei lokalen Anlässen und in den Grotti der Umgebung zu musizieren. Als er den Schreiner schliesslich 1989 an den Nagel hängte, widmete er sich ganz dem Organetto. Später besuchte er Kurse an der Accademia di Musica und an der Scuola di Musica Moderna in Lugano. Am ITEMM, dem Institut Téchnologique Européen des Métiers de la Musique in Le Mans, belegte er den Lehrgang «accordéon: réparation et accordage».
Die zunehmende Verbreitung kommerzieller Sonnenstuben-Folklore machte Garbani schon immer Sorge. «Sie hat nichts zu tun mit der Tessiner Musik meiner Jugend», betont er. Zusammen mit Kollegen gründete er die Musikergruppe Mea d’Ora, um ethnologisch-musikalische Nachforschungen in den Tessiner Tälern voranzutreiben. Mit Aufnahmegeräten besuchte Mea d‘Ora alte Menschen und hörte ihren Erinnerungen und Liedern zu.
Ziel war es, der Bevölkerung, vor allem auch im Onsernonetal, eine authentische musikalische Stimme zu geben. «Ein behutsamer Prozess der viel Vertrauen und Fingerspitzengefühl braucht», so Garbani. «Nicht immer wollen sich die Leute auf die alten Lieder zurückbesinnen, da sie Erinnerungen an schwierige Zeiten hervorrufen.» Doch hätte Mea d'Ora aufgegeben, wären wertvolle historische und musikalische Zeugnisse der Tessiner Vergangenheit für immer verloren gegangen.
So auch das Wissen über die Strohindustrie. Sie beschäftigte Frauen und Männer im ganzen Onsernonetal und expandierte während der Zeit der Auswanderungen im 19. Jahrhundert ins Piemont, nach Frankreich und bis nach Kalifornien. Ein berührendes Lied basiert auf einem handgeschriebenen Brief eines Mannes, der nach Amerika emigriert war. Aufbewahrt ist dieser Brief im Regionalmuseum in Loco, einem der Dörfer im Onsernonetal.
Ortswechsel. Wir sind im Innenhof eines alten Bürgerhausensembles mitten in der Locarneser Altstadt. An einer Eingangstür steht «Entrée des artistes» geschrieben. Die Tür öffnet sich, und wir treten in den Probenraum und in die Wohnung von Esther Rietschin. Die Baslerin mit einer breitgefächerten Ausbildung und einer Berufspraxis in Schauspiel, Musik, Tanz und Bewegungskunst trat 1990 in Mauro Garbanis Leben. Am Teatro Paravento in Locarno arbeiteten sie zusammen, als Schauspieler und Bühnenmusiker. In dieser Zeit kam Rietschin in den Genuss eines der letzten Konzerte der Gruppe Mea d’Ora, die sich 1991 auflöste.
Rietschin war sofort tief berührt von dieser ihr bis anhin unbekannten Musik. Ihr gefiel die archaische Kraft der seit Jahrhunderten überlieferten Lieder. Um dieses Liedgut gemeinsam zu pflegen, gründeten Garbani und Rietschin das Duo Vent Negru. Vent Negru bezeichnet im Valle Onsernone den Wind, der die graue Wolkendecke zur Seite schiebt und gutes Wetter bringt. Rietschin leistet seither mit ihren musikalischen Arrangements und Kompositionen ihren persönlichen Beitrag.
Die Quelle des Repertoires von Vent Negru ist das reiche Kulturgut von Liedern und Instrumentalstücken der südalpinen Volksmusik, die bis heute dank mündlicher Überlieferung und den Aufzeichnungen von Forschern und Sammlern erhalten geblieben ist. Mit neuen Bearbeitungen und eigenen Kompositionen, stimuliert auch durch die aktuelle Musikkultur, will Vent Negru der überlieferten Volkskultur die Wertschätzung sichern. Die Gruppe spielt bei Anlässen und Konzerten an den unterschiedlichsten Orten mit dem Wunsch, den Stil der Wandermusiker und Geschichtensänger aus vergangenen Zeiten weiterzupflegen.
Diese Musik und Texte ergreifen gerade dank ihrer Schlichtheit. Es sind melancholische oder traurige, aber auch freche und komödiantische Musikstücke über das harte Leben der Bauern, die Rolle der Kirche und ihrer nicht immer sehr tugendsamen Priester und Mönche, über Auswandererschicksale und verhängnisvolle Liebschaften.
Lange Zeit interessierten sich junge Tessiner kaum für diese überlieferte Tradition. Doch änderte sich das vor einigen Jahren, und mit Mattia Mirenda, einem ehemaligen Organetto-Schüler von Mauro Garbani erweiterte 2017 ein junger Musiker das Duo Vent Negru zum Trio. Von Beruf ist der Tessiner mit sizilianischen Wurzeln Physiotherapeut, seit kurzem auch Musiktherapeut.
Mirenda pflegt die eigenen kulturellen Wurzeln vor allem im Bereich der Musik. Er fügt dem Duo Vent Negru, das singt und mit Organetto, Gitarre, Okarina, Akkordeon, Alt- und Sopransaxophon und traditionellen Perkussionsinstrumenten musiziert, neben seiner Stimme und Gitarre auch die Mandoline hinzu. Mauro Garbani und Esther Rietschin sind glücklich, Mattia Mirenda dabeizuhaben. Sein Interesse zeigt, dass ihre Arbeit nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft hat.
Verfasserin: Barbara Hofmann, ch-intercultur