Häusliche Gewalt: «Es kann jede treffen»
Nach dem Mord an einer Studentin protestierten diesen Sommer tausende Frauen in der Türkei gegen Femizide und für ein härteres Durchgreifen gegen die Täter. Aktuelle Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen: Frauenmorde sind auch in der Schweiz ein Problem. Durchschnittlich alle zwei Wochen wird eine Person ermordet, drei Viertel der Opfer sind Frauen. Dazu kommt durchschnittlich jede Woche ein Mordversuch an einer Frau, meist im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt.
Die Sozialarbeiterin Monika Kohler von der Opferhilfe St.Gallen und beider Appenzell ermutigt im «Gott und d’Welt»-Podcast betroffene Frauen, sich Hilfe zu holen.
Frau Kohler, warum ist es so schwer, das Problem häusliche Gewalt in den Griff zu bekommen?
Es gibt verschiedene Faktoren, die dazu führen können, dass jemand gewalttätig wird. Es kommt zum Beispiel darauf an, welche Kindheitserfahrungen diese Person gemacht hat oder welches Rollenverständnis sie hat. Psychische Störungen, Suchtmittel oder Machtfragen können auch eine Rolle spielen.
Wie oft hat die Opferhilfe St.Gallen mit dem Thema «häusliche Gewalt» zu tun?
Im letzten Jahr hatten wir 505 neue Fälle. Darunter waren 178 Frauen, die uns von der Polizei übermittelt wurden. Es ist also ein grosses Thema. Dass während des Corona-Lockdowns die Fälle angestiegen sind, kann man aber nicht sagen.
Wie gross ist die Hemmschwelle für Frauen, sich bei Ihnen zu melden?
Sehr hoch. Das merken wir daran, dass sich oft Freundinnen von Betroffenen oder auch Nachbarn, erwachsene Kinder und Arbeitgeber bei uns melden. Frauen schämen sich manchmal dafür, dass es ihnen überhaupt passiert und dass sie sich nicht wehren können. Sie glauben, dass es nur ihnen so geht, doch eigentlich kann häusliche Gewalt jede treffen.
Im schlimmsten Fall kann häusliche Gewalt tödlich enden. Glauben Sie, dass nur die «spektakulären» Fälle an die Öffentlichkeit gelangen?
Es gibt bestimmt viele Fälle, von denen die Öffentlichkeit nichts erfährt. Mich stört im Zusammenhang mit der Berichterstattung oft das Wort Familiendrama. Es bagatellisiert nämlich, was dahinter steckt. Es ist nicht einfach ein Familiendrama, sondern oft das Resultat von längerer Gewalt oder systematischer Unterdrückung, also von patriarchaler Männergewalt.