Martina Lussi: «Es geht mir ums Aushalten von Dissens»
Martina Lussi steht auf der Bühne des Kulturzentrums Südpol in Luzern, vor ihr der Computer - und das Publikum. Die Luzerner Klangkünstlerin trägt oben weiss und unten schwarz, so wie immer.
Neu ist das Soundmaterial, das sie präsentiert: ein kompositorisches Spiel der Irritationen, Imaginationen und Interpretationen. Lussi ist damit vom Atelier in Paris, in dem sie zurzeit weilt, nach Luzern gereist, wo heute ihr neues Album «Diffusion Is A Force» getauft wird.
Wer sich in ihr elektroakustisches Energiefeld ziehen lässt, erkundet Neuland. Klänge, vertraut und rätselhaft, knisternd und knatternd, zischend und grollend, fliessen in einem homogenen Soundkosmos zusammen.
Sehnsuchtsvolle Gitarrenmelodien erscheinen am erdachten Horizont. Ein pulsierender Rhythmus beschwört das Bild eines Helikopters mit seinen ratternden Rotorblättern herauf. Dazwischen: Stimmen. Irgendwann erklingen plötzlich Schüsse, oder sind es vielleicht doch einfach nur Feuerwerkskörper? Inspiration durch Irritation, auch so fordert Martina Lussi ihr Publikum heraus.
In der heutigen Zeit müssen wir effizient, fokussiert und flexibel sein, gleichzeitig ist die Zerstreuung der Aufmerksamkeit in der digitalen Welt allgegenwärtig. Auf ihrem zweiten Album «Diffusion Is A Force», das im Januar auf dem Pariser Label «Latency» erschienen ist, führt uns die bildende Künstlerin Martina Lussi an eine andere Rezeption heran: Zerstreuung als Stärke - auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen, nach den Lücken und Details, nach dem Vertrauten, nach Bildern und Erinnerung.
Die Klangarchitektin inszeniert weitläufige Soundscapes, deren Ausgangspunkt oft Field-Recordings sind - Aufnahmen von einem Basketballspiel in einer Sporthalle, schreienden Kindern, Wind. Zudem kontrastiert sie ihre vielschichtigen Klangmeditationen immer wieder mit bedrohlichen Zwischentönen. Sie könnten als eine Reflexion über unser Leben in verunsicherten Zeiten gedeutet werden.
In «Diffusion is a Force» fände man eine Zerrissenheit wieder, die Teil aller ihrer Arbeiten sei, erklärt Lussi einen Tag nach ihrem Auftritt im «Südpol». «Ich möchte keine Statements dazu abgeben, wie Leute zu denken oder handeln haben. In meiner Arbeit geht es um die Stellen dazwischen, wo es unklar und schwierig wird, eine klare Haltung zu beziehen. Es geht um das Aushalten von Dissens.»
Sie beziehe bewusst auch keine klare politische Position mit ihrer Arbeit. Sie stelle mit dem, was sie tue, offene Fragen, die von jedem persönlich und natürlich auch politisch gelesen werden könnten.
Diffusion hat aber auch mit ihr als Person zu tun: «Ich bin sehr zerstreut, eine Tagträumerin.» Grundsätzlich müsse der Sound, den sie am Computer generiere, etwas mit ihr machen: «Ich bin keine klassisch ausgebildete Musikerin, darum lasse ich mich vor allem von meiner Intuition leiten.»
In der Regel hört sie sich neue Klangerzeugnisse nebenbei an: «Wenn es die Sounds bei diesem unbewussten Hören schaffen, meine Aufmerksamkeit zu wecken, ist das für mich ein Indiz dafür, dass etwas Spannendes entstanden ist.»
Als Schlüsselerlebnis nennt Martina Lussi einen Atelieraufenthalt in Kairo, der just in die heisse Phase des Arabischen Frühlings fiel. Die politischen Ereignisse, die sich während ihrem Besuch überstürzt hatten, hätten sie gezwungen, sich selbst und ihre Arbeit als Künstlerin zu reflektieren: «Ich fragte mich, was ich als Künstlerin zur Lösung dieses Konflikts beitragen könnte und was Kunst in diesem Kontext überhaupt bewirken kann.»
Als sie sich ihre Field-Recordings anhörte, die sie in den belebten Strassen Kairos gemacht hatte, fiel ihr ausserdem auf, dass Freude und Schrecken akustisch manchmal kaum zu unterscheiden sind: Schüsse versus Feuerwerklärm, glückliche versus angstvolle Schreie.
Bedrückt und ohne Antwort in der Reisetasche kehrte die Künstlerin mit Jahrgang 1987, die an der Hochschule Luzern den Bachelor in «Fine Arts» und anschliessend an der Hochschule der Künste in Bern den Master in «Contemporary Arts Practice» erworben hat, in die Schweiz zurück.
In der gewohnten Umgebung konnte sie die Desorientierung wieder abschütteln und kam zur Erkenntnis, dass sie das Privileg, in der Schweiz Künstlerin zu sein, voll und ganz nutzen und ausschöpfen musste. «Etwas, was ich aktiv tun kann, ist mich nicht über meine Situation zu beklagen, sondern die Freiheit, die ich hier in der Schweiz als Künstlerin geniesse, zu nutzen.»
Ausserdem stellte sie den Sound und die akustische Recherche in ihrem künstlerischen Schaffen klar in den Mittelpunkt. «Sound interessiert mich als Medium, weil man sich ihm nur schwer entziehen kann. Er trifft uns unmittelbar und gleichzeitig kann man ihn auch nicht greifen. Die Arbeit mit Sound beruhigt mich, gibt mir Boden. Ich fühle mich inspiriert, am richtigen Ort.»
Letztes Jahr stand Martina Lussi auf dem Sprungturm des ehemaligen Schwimmbads Neubad in Luzern und beschallte den Raum mit noisigen wellenartigen Geräuschen, Kinderstimmen und unheimlichen Synthesizerklängen à la Twin Peaks.
Im Mai dieses Jahres hinterliess sie an den Stanser Musiktagen im unteren Beinhaus ihre Sounddesignspur. Auch mit ihren Installationen, in denen Bettfedern und Kupferstäbe komplexe Soundmuster übertragen, ist die Künstlerin nach wie vor regelmässig in Kunsträumen vertreten. «Grundsätzlich bin ich davon weggekommen, mit zu ausgeklügelter Technik zu arbeiten, da mich dies davon abhält, mich vertieft mit dem Sound zu beschäftigen. Darüberhinaus ist oft nicht vermeidbar, dass die Technik in Form von Kabeln und riesigen Boxen die Installation im Raum sabotiert.»
Seit neuestem experimentiert Martina Lussi mit Geruch: «Er ist dem Sound ähnlich, da er nicht sichtbar ist und unmittelbar die Sinne anspricht.» Das entsprechende Werk war im Juni an den Swiss Art Awards in Basel ausgestellt. Mit ihrer freien und forschenden Soundarbeit wird uns die Luzerner Klangarchitektin weiterhin tief in unbekannte Zwischenräume blicken lassen.
www.martinalussi.ch
Verfasserin: Judith Wyder, ch-intercultur