«Musiknoten sind uns nicht so wichtig»
Nach den legendären Musiktagen, die während fünf Tagen und Nächten Klänge aus aller Welt ins Dorf brachten, ist kein Bein auf der Strasse. Fast jedenfalls: auf dem Dorfplatz und im Pärklein hinter dem Chäslager sind Arbeiter einer Zeltvermietung aus Willisau dabei, mit Asylbewerbern Plachen und Zeltstangen wegzupacken. Von der «Engel»-Terrasse linsen Hotelgäste herüber, sonst ist der Nidwaldner Hauptort wie ausgestorben.
Erst gegen Abend besammeln sich an der Talstation der Stanserhorn Bahn einige frisch Aufgeweckte. Mit der alten Holzbahn und der topmodernen Cabrio-Gondel sind sie bald auf dem Berg, wo die Musiktage ihren offiziellen Abschluss finden.
Im Panorama-Restaurant mit Blick auf die Innerschweizer Seenlandschaft und den weissen Titlis steht ein musikalischer Genuss an: Evelyn und Kristina Brunner aus Thun stellen ihre erste CD vor. «elementar» heisst sie und bringt die Musik des Duos auf den Punkt. «Das gemeinsame Musizieren ist für uns elementar», sagt Kristina Brunner wenige Tage später in Bern. «Dadurch haben wir gemeinsam gelernt und wichtige Erfahrungen gesammelt.»
Kristina Brunner ist die jüngere der beiden Schwestern. Sie hat Jahrgang 1993 und schloss ein klassisches Bachelorstudium im Hauptfach Cello mit Schwerpunkt Volksmusik ab. Evelyn, Jahrgang 1990, hat Musik- und Bewegungspädagogik studiert. Wenn sie gemeinsam auftreten, kombinieren sie ihre Tieftöner mit Schwyzerörgelis.
Auf dem Stanserhorn greift Evelyn Brunner nach ihrem Kontrabass, und Kristina setzt sich mit dem Schwyzerörgeli neben sie. «Herr und Frau Fröhlich» heisst ihr erstes Stück, das den beschwingten Boden legt für ein Konzert, das die Angereisten alsbald staunen lässt. Drei Örgelis liegen bereit, die mal diese, mal die andere der beiden Brunners zur Hand nimmt. Dazwischen wechseln sie zu Cello und Kontrabass, wobei die Saiten gestrichen werden, gezupft oder in bester Funkmanier geslappt.
Die flinken Schwestern spielen in allen Variationen und wechseln von lüpfigen Tänzen zu melancholischen Balladen. So kippt die «Berner Polka» in beschwingte Jazzsynkopen, der Walzer «Dr. Romang» wandelt sich zur Musette, und beim «Mailänderli» vermeint man eine Brise Atlantik zu schnuppern.
Während der leicht bedeckte Nachmittagshimmel in den Abend eindämmert, reist das Konzertpublikum durch Klangwelten, die an den Balkan erinnern, an Skandinavien oder an die Bretagne. Dabei schimmern stets die Wurzeln der Schweizer Volksmusik durch.
In Finnland seien sie mal in den Ferien gewesen, lacht Kristina Brunner. «Maria Kalaniemi hat mich stark inspiriert. Die finnische Akkordeonistin ist mir seit dem Gymer bekannt. Damals begann ich, mich mit anderen Musikstilrichtungen auseinanderzusetzen», sagt sie und erklärt, was «anders» bedeutet. «Zu Hause dominierte Volksmusik. Unser Vater spielt Schwyzerörgeli, und ab dem Kindergartenalter haben wir mit ihm musiziert.»
Evelyn ergänzt: «Wir hatten so intensiv zugehört, dass wir eines Tages einfach nachzuspielen begannen. Kenntnisse über Musiktheorie sind zweifelsohne grundlegend, doch für uns findet die Musik bis heute nicht auf dem Papier statt. Sie entwickelt sich durch Ausprobieren und Spielen. Daher sind uns Musiknoten nicht so wichtig.»
Das gemeinsame Musizieren hat die beiden Schwestern zusammengeschweisst. Als Teenager begannen sie, bestehendes Material zu erweitern und auf andere Instrumente zu übertragen. Denn zu den Örgelis waren Cello und Kontrabass gekommen. «Der Bass stand schon immer bei uns zu Hause», erzählt Evelyn. «Als ich an einem klassischen Konzert dann eine Frau am Kontrabass sah, war ich völlig hingerissen.» Kristinas Faszination am Cello gründet in der Begegnung mit einem «coolen» Cellolehrer aus Chile, der an der Musikschule mit ihr Volkslieder spielte.
Die Leidenschaft für Musik liess die Brunner-Schwestern nicht mehr los. Beide entschieden sich für ein Studium in Luzern. «Dort führt die Jazzabteilung der Hochschule den Lehrgang Volksmusik», erklärt Kristina Brunner, «bis heute ein Unikum in der Schweiz». Evelyn hat ihr Studium abgeschlossen, Kristina absolviert gerade den Master-Lehrgang in Schwyzerörgeli. In Luzern fanden die Brunners Support für ihren Drang, ihre Musik weiterzuentwickeln. Leute wie der Örgeler Markus Flückiger oder Jazzer Albin Brun, die zu den Pionieren und umtriebigsten Akteuren der «Neuen Schweizer Volksmusik» zählen.
Die beiden Schwestern rümpfen gleichzeitig die Nase. «Von dieser Kategorisierung halten wir nicht viel», sagt Evelyn. Und Kristina stellt klar warum: «Volksmusiker haben seit jeher Neues und Anderes ausprobiert und in ihr Spiel integriert. Und dies machen nun auch wir.» Gerade die skandinavische Musik sei der schweizerischen in manchem ähnlich, erklärt sie. Das Tänzerisch-Fidele, aber auch die Melancholie des Nordens lasse sich deshalb gut mit der Schweizer Volksmusik fusionieren. Evelyn findet Inspiration aber auch bei Jazzern wie dem Bassisten Avishai Cohen.
Den Kontakt und Austausch mit anderen Musikern finden Evelyn und Kristina Brunner bereichernd. Beide spielen in Bands, die auch mal nach Pop klingen - oder nach Klassik. In bester Erinnerung ist ihnen eine Begegnung mit Musikern im Libanon, die kaum Englisch sprachen, weshalb die Kommunikation übers Musizieren geschah.
Aus all diesen Einflüssen entwickeln sie eigene Stücke. «Wir üben oft und intensiv zusammen», betont Evelyn Brunner. «Unsere Ideen müssen ja zu Stücken werden», erklärt Kristina. «Also spielen wir, tauschen Ideen aus und versuchen zu verstehen, was wir genau machen.» Dies funktioniere nicht immer in reiner Harmonie, doch die Schwestern leben eine unentwegt intensive Freundschaft. «Wir schätzen es sehr, gut miteinander auszukommen und viele Dinge teilen können», sagt Evelyn. «Dennoch ist es für beide wichtig, auch unabhängig voneinander unterwegs zu sein.»
Der Schlussapplaus auf dem Stanserhorn ist lange und laut. An einem improvisierten CD-Stand gehen die «elementar»-Scheiben weg wie warme Semmeln, und die Schwestern sind fleissig am Signieren. Ihre Musik kommt an, denn sie liegt im Trend. Dies spüren Evelyn und Kristina Brunner nicht nur nach ihren Konzerten.
Beide unterrichten auch und freuen sich über das Interesse vieler Kinder an Volksmusik. Im Gegensatz zu deren Eltern, die oft staunen, wenn Sohn oder Tochter in der Musikschule das Schwyzerörgeli wählt, verstehen die Brunners diese Begeisterung. «Es ist eine vielseitige und zugängliche Musik», sagt Evelyn Brunner. «Und sie ist mehrheitsfähig geworden», ergänzt Kristina. Auch dank ihnen? «Wer weiss», sagt sie. «Die Zeiten jedenfalls, als es peinlich war, Volksmusik zu hören oder zu spielen, sind vorbei!»
www.evelyn-kristina-brunner.ch
Verfasser: Frank von Niederhäusern, sfd